Samstag, 1. Juni 2024: Finale Einzel Männer

Der Kegelkrimi von Brezno

Tim Brachtel – Philipp Vsetacka 3:1 (672:667)

Das WM-Finale der Männer im Sportkegeln Classic stand im Zeichen von Tim Brachtel, einem 21-jährigen, himmelstürmenden Ausnahmetalent aus Deutschland, und dem 15 Jahre älteren Philipp Vsetacka, der im vergangenen Jahr mit Österreich das deutsche Team – mit Brachtel – im WM-Finale besiegt hatte. Brachtel hatte in den vergangenen Tagen im slowakischen Brezno bereits fünf Medaillen in der U23 gesammelt, darunter zwei Weltmeistertitel mit der Mannschaft und in der Kombination.

Die beiden letzten Spieltage im Einzel beim Sportkegeln Classic sind unerhört kraftraubend, weil vier Spiele über 120 Wurf binnen 48 Stunden ausgetragen werden, um das Teilnehmerfeld zwischen Achtelfinale und dem Spiel um die Krone auszudünnen.

Das Spiel in der Brezno Arena, sonst eine Eishockeyhalle, hätte dennoch heißer nicht sein können. Nebenan duellierten sich im Frauen-Finale die Tschechin Natalie Binova und die Kroatin Natasa Ravnic. Binova musste im vorletzten Wurf den einzig verbliebenen Kegel unbedingt treffen, um einem Sudden Victory aus dem Weg zu gehen. Sie bewies Nervenstärke und trat damit die Nachfolge der Pöllwitzerin Anna Müller an, die 2022 in Elva Weltmeisterin geworden war und nach der Geburt ihres Kindes dieses Jahr nicht am Start war.

Das Männer-Finale war erst recht nichts für schwache Nerven. Im ersten Satz des knapp eineinhalbstündigen Matches hatte Brachtel mit einer das Räumen eröffnenden Neun den Rückstand in die Vollen egalisiert und war mit 161:146 weit davongezogen. Vsetacka hatte sich bei Wurf19 seinen Zeigefinger beim Wurf verletzt und wurde nach Satzende zehn Minuten behandelt.

Er kehrte wie verwandelt auf die Bahn zurück und nachdem Brachtel im ersten Wurf des Räumens vier Versuche für das erste Bild benötigte, übernahm der Österreicher mit einer 178er-Bahn im Gesamt die Führung und hatte am Ende der zweiten Wurfserie, auch weil Brachtel in Wurf26 einen Fehler links vorbei am Kegel2 spielte, sechs Kegeln mehr auf dem Tableau stehen.

Doch das Blatt wendete sich im dritten Satz erneut. Mit 113 Vollen rauschte Brachtel im Gesamt vorbei, konterte im Räumen zwei aufeinanderfolgende Neuner von Vsetecka selbst mit einem Neuner. Wie groß die nervliche Anspannung war, zeigten beide in ungewohnten Fehlwürfen, Vsetacka in Wurf 23 und 26, Brachtel in Wurf25. Der eine Fehler weniger des Deutschen sollte dann auch den Ausschlag geben, dass er mit einem 2:1 und einem Vorsprung von drei Kegeln auf die letzte Bahn wechselte.

Der unsichtbare Autor dieses Kegelkrimis aber hatte offensichtlich Spaß an jähen Wendungen des Geschehens. Und die hatten weiterhin das Zeug zu einem Bestseller. Nach den letzten Vollen führte der Österreicher mit 13 Kegeln. Das war schon eine schwere Hypothek, zumal Vsetacka anschließend sauber jeweils in zwei Versuchen seine Bilder räumte, auch schwierigere wie in Wurf 19 auf die Kegel124.
Brachtel umschiffte derweilen drei Klippen. Erst steckte er weg, dass er für das erste Räumbild einen mehr als Vsetacka benötigte und so noch weiter zurückfiel. Dann säuberte er nach einem Vier-Kegel-Anspiel den Rest mit einem einzigen Wurf und schließlich legte er in Wurf 21 und 22 zwei Neuner in Folge auf. Vsetacka war mit seinen Würfen voraus, stellte sich in Wurf28 die Kegel567. Doch er spielte die Kombination zu sanft an der rechten Seite von Kegel5 an, der linke Kegel7 wurde am Ende zwar touchiert, aber der Kontakt war zu gering, um für die Wertung als gefallener Kegel auszulösen.

Brachtel machte es postwendend besser: Nach einem gelungenem Gassenwurf auf Kegel 12 fiel am Ende auch der rechts stehende vierte Kegel - der Sechser. Weiter ging es ins volle Bild. Der Deutsche hatte nun noch drei Wurf zu absolvieren, schaute aber erst einmal darauf, wie Vsetacka mit seinem letzten Wurf bei 667 Kegeln im Gesamt ankam. Brachtel stand bei 654.

Ein Neuner hätte es jetzt einfacher gemacht, aber doch nicht in DIESEM Finale. Der Zerbster traf fünf Kegel und zielte nun auf die Gasse zwischen Kegel25 - es war die dritte schwierigere Konstellation seines letzten Räumens. Es war die dritte, die er meisterte! Milos Ponjavic, Deutschlands serbischer Co-Nationaltrainer, der sein Heimatland schon zu drei WM-Titel geführt hatte, ballte die rechte Faust. So euphorisiert sieht man ihn selten. Vsetacka hingegen ließ kurz den Kopf hängen, und sagte kopfschüttelnd leise: "Ist das bitter!".

Der letzte Wurf. Dem Youngster fehlten, eine Woche vor seinem 22. Geburtstag, ins volle Bild nur noch fünf Kegel zum Gold. Wieder ein Gassenwurf rechts, alles fällt – und dann Ekstase pur: Tim Brachtel und Milos Ponjavic stecken seitlich beide Fäuste aus. Vsetacka gratuliert, herzliche Umarmung mit Ponjavic, Gratulation des österreichischen Nationaltrainers Gerhard Pracser und schließlich Brachtels Signatur des Wurfscheins - Ordnung muss sein.

Nebeneinander standen bei der Spielabsage anschließend die Gladiatoren eines Duells, das einen späten Sieger fand und das Sportkegeln von der allerbesten Seite zeigte. Regelrecht lapidar formulierte der Hauptschiedsrichter den Schluss dieses Kegelkrimis: "Dankeschön! Auf Wiedersehen! Gute Nacht!" Diese aber sollte lang werden...